Fechter

Ein Roman nach wahren Begebenheiten


Über den Tatsachenroman

Aus dem Leben eines Söldners.
Nach seiner Zeit bei der Fremdenlegion arbeitet er für jeden, der, wie er, sich gegen Terroristen wendet - und ihn dafür bezahlt.

Ob z. B. im Libanon oder im Einsatz für Geheimdienste resp. Nachrichtendienste wie z. B. dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst (BND), Wolf Fechter, der Protagonist, ist Söldner aus tiefster Überzeugung. Bis zu dem Tag, als man ihn zum Narren hält und sich weigert, ihn zu bezahlen.
Folgen Sie Wolf Fechter u. a. nach Spanien, in den Libanon, die Niederlande und durch Deutschland.

Der Roman kann als Taschenbuch und als E-Book weltweit über jede Buchhandlung bezogen werden.

Fechter ist ein Roman nach wahren Begebenheiten von Olaf W. Fichte

Buchdeckel von Fechter


Fechter

Ein Roman
von Olaf W. Fichte

Spanien - im Juni

Seit Malaga kam ich recht gut voran. Ich ließ die alte Hafenstadt am Mittelmeer, ihren dichten Dunstschleier, der sich schwer auf mein sonniges Gemüt legte und mich nötigte, die Fenster hochzukurbeln; ihre verwahrlosten Straßenkinder, die mir an jeder Ampel auflauerten und, nachdem sie mit einem mäßig feuchten Schwammstück einen Brei aus Insektenkadavern und Straßenstaub auf meiner Windschutzscheibe verteilten, der sich mit jeder Ampel zu einem immer undurchsichtiger werdenden feinen milchig weißen Film verdichtete, mir ungerührt mit ihrer widerlich aggressiven Bettelei auch noch den Rest zu geben versuchten; ihre bunt gekleideten Touristen, die sich ahnungslos gebend ihre Lungen voll gesunder Meeresluft pumpten, und auch den eleganten, jovialen Herrn, der rauchend an der Ecke stand, den Schnorrerkids Münzen zuwarf und sich köstlich amüsierte, wenn sie nicht herankamen, weil vor und hinter ihnen Fahrzeuge vorbeirauschten - all dies ließ ich hinter mir, schaltete kurz die Scheibenwischanlage ein, öffnete die Fenster, gab kräftig Gas und genoss den ersehnten Fahrtwind.
Endlich, endlich wieder frei.

Mein kleines rotes Auto gehorchte, ohne zu murren. Zügig trug es mich ins Bergland, durch Tunnel, vor denen ich trotz Hinweisschildern grundsätzlich vergaß die Scheinwerfer einzuschalten, auf einen scheinbar endlosen Highway, der uns, mein surrendes Automobil und mich, geradewegs in den Norden führte.

Es war einer dieser ordentlich heißen Sommertage, die zu einem anständigen spanischen Sommer gehörten wie halb nackte Mädchen, schweißtriefende Millionäre und verdorrte braungelbe Gräser an die Costa del Sol.
Wer brauchte schon Grünzeug, wenn das Fleisch bereits im Sand schmort?
Trotz der unbarmherzig drückenden Hitze drosselte ich das Tempo und tuckerte mit 120 Stundenkilometern dahin.
Ich weiß, was Sie jetzt denken: Sie denken, ich sei ein klein wenig verrückt. Nein ... oder vielleicht doch. In diesen Augenblicken war ich vor allem verzückt. Vergessen waren Staub und Sonnenglut. Der vielfältige Reichtum dieser Landschaft hier oben zog mich in seinen Bann und versetzte mich in eine Art Lusttaumel. Er kam herab von den Bergen, schlängelte sich über saftig grüne Wiesen, Bäume und Sträucher, entlang in voller Reife stehender Felder; hin zum beruhigenden Flimmern der Straße und den winzigen Dörfern. Vereinzelt saßen alte Männer auf Obstkisten am Straßenrand, rauchten und schauten mir gleichmütig nach. Ich sah in ihre von harter Arbeit gezeichneten und der Witterung vieler Jahrzehnte zerfurchten, voller Weisheit offenen Gesichtern und hörte ihre Botschaft: Fahr weiter, Fremder. Halte nicht an. Hier findet kein Leben für Sechsundzwanzigjährige statt. Die Jungen fanden ihr Auskommen in der Stadt. Uns Alten bleibt die Arbeit auf dem Feld und das Land unserer Urväter, das uns eines Tages genommen wird, um Hotels wachsen zu lassen. Bleib nicht stehen, Fremder. Fahr weiter, immer weiter.
Ich war fasziniert, fühlte mich keineswegs als ungebetener Gast, gar als Eindringling oder teilnahmsloser Beobachter, sondern dazugehörig. Einmal erwischte ich mich mit einem bewundernden Lächeln auf den Lippen.
Es galt dem eisernen schwarzen Stier - hoch oben auf einer Anhöhe. Stolz und ausdrucksstark sah er zu mir herab, ohne bedrohlich zu wirken.

Er wünschte mir eine gute Fahrt und ich dankte es ihm mit einem hochachtungsvollen Kopfnicken, begleitet von einer leichten Verneigung. Glanz und Erhabenheit - das nenne ich Stil.
Was sich mir bot, nahm ich mit. Alles sog ich auf, schwieg und kostete jede einzelne Sekunde aus. Bei so viel unverschämter Schönheit blieb mir keine Chance zur Gegenwehr. Und das war gut so. Wer weiß schon, was morgen kommen wird. Vielleicht werde ich geblendet sein, wie ich es noch vor wenigen Stunden war.

*****

Alles fing mit einem Anruf an. Geheimnisvoll - natürlich. Es liegt ein paar Tage zurück. An einem Mittwoch Nachmittag vierzehn Uhr dreißig, um korrekt zu sein. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil es meine Zeit ist, eine Zeitung zu nehmen und den Topf zu drücken. Nein, nicht nur mittwochs. Auch anderentags, wenn sich die Verdauung nach einer guten Mittagsmahlzeit beschleunigt.

Jedenfalls klingelte das Telefon nach erfolgreicher Geschäftsabwicklung. Zum Glück, möchte ich sagen, denn ein paar Minuten früher ... Erleichtert zog ich meine Hosen hoch, angelte nach der Reißleine des Spülbehälters und machte mich eiligst davon. Schweiß bedeckte mein blasses Gesicht.
Mit der BILD-Zeitung vom letzten Samstag unterm Arm balancierte ich gemächlich um die am Morgen angelieferten Mehlsäcke durch die Backstube in Richtung des unaufhörlich bimmelnden Telefons. Ein nervtötendes Ding. Und mein Hemd wollte nicht in die Hose.
Im Verkaufsraum angelangt, bettete ich meinen Oberkörper neben die Registrierkasse mit Sammlerwert auf den Ladentisch, nahm den schwarzen Hörer des nur unwesentlich jüngeren Telefons und klemmte ihn zwischen Ohr und Schulter. Bevor ich mich meldete, zündete ich mir erst noch eine Zigarette an.
"Si?" Mein Spanisch war nicht überragend, aber dieses Wort leierte ich gekonnt wie ein Einheimischer herunter.
Vom anderen Ende kam etwas, was ich nicht deuten konnte. Ich tippte auf einen Ausländer, der sich in einer Fremdsprache (vielleicht war es auch nur ein seltener Dialekt) übte, ohne dass er sich um Ausdruck und Betonung scherte. Ich ließ ihn sich quälen, inhalierte und blies den Rauch zur Decke.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte ich schließlich in allerfeinstem Hochdeutsch, und der Mann antwortete erleichtert: "Ja! Ist Herr Fechter über Sie zu erreichen?"
"Muss ich mal nachfragen", und legte den Hörer geräuschvoll auf die Theke, drückte meine Zigarette auf einer Untertasse aus und nahm den Hörer wieder auf. "Ja, ist er. Was wollen Sie von ihm?"

"Darüber hätte ich gern mit ihm persönlich gesprochen."
"Dann tun Sie’s doch. Bin schon da."
"Bleiben Sie bitte dran, ich verbinde Sie."
Ein Knacken in der Leitung. Die Verglasung der Kühltheke zur Linken fing mein fragendes Minenspiel auf. Was, wenn ich es nicht bin?
"Hallo, spreche ich mit Herrn Fechter?", forschte eine andere männliche Stimme nach wenigen Sekunden Funkstille.
"Und ich?"
"Herr Bernhard möchte Sie sprechen."
Bernhard? Ich kannte niemanden, dessen Familienname andere Leute zum Rufnamen haben.
"Nur zu, Sie zahlen!"
"Er ruft Sie in zehn Minuten zurück."
Ich legte auf und spurtete ein weiteres Mal auf den Lokus.
Und wie ich da so saß, die Ellbogen auf den Knien und den Kopf zwischen den Handflächen, fragte ich mich, ob ich nicht etwas Vernünftigeres zu tun habe, als auf einen merkwürdigen Anruf zu warten. Hatte ich nicht. Und dann war da auch noch meine Neugier und das unerklärliche Gefühl, auf eben diesen Anruf gewartet zu haben und womöglich eine einmalige Gelegenheit zu verpassen, nahm ich ihn nicht wahr. Also beeilte ich mich.
Als der Apparat von Neuem klingelte, stand ich bereits neben ihm. Ich war allein. Mittwochs war ich immer allein im Laden, denn mittwochs war Ruhetag - da blieb die Konditorei geschlossen. Das Geschäft gehörte Freunden. Dienstagabends rollte ich meinen Schlafsack auf dem Kachelboden im Verkaufsraum neben der Eingangstür aus und donnerstags in der Früh gegen drei wieder zusammen. Dann kam Ulli, der Chef, weckte mich und machte sich nach einer gemeinsamen Tasse Kaffee ans Brot backen. Eigentlich schaute ich nur vorbei, um mich herumtreibenden Strolchen, die dem überhandnehmenden Freizeitsport frönten, nach Geschäftsschluss in fremder Leute Kasse zu greifen, in den Weg zu werfen und ihr ehrgeiziges Vorhaben ein Stück weit zu versüßen. Aber sie kamen nicht - und so langweilte ich mich die überwiegende Zeit.
Ich tat es nicht der Peseta, die mir Ulli heimlich zusteckte, sondern unserer Freundschaft wegen. Biggi, seine Frau, durfte von dem Geld nichts wissen. Knauserig war sie bestimmt nicht, nein, Biggi war krankhaft geizig. Insbesondere ihrem Mann und seinen Freunden gegenüber.

Entspannt zündete ich mir eine Zigarette an, trank einen Schluck Kaffee, nahm den Hörer ab und sagte: "Beerdigungsinstitut Himmelsfreud."
"Grüß Gott, spreche ich ..."
"Nein, dem Herrn ist unpässlich."
"Spreche ich mit Wolf Fechter?"
"Das wiederum kann ich bejahen. Worum geht es?"
"Können Sie auch Ernst sein?", fragte er pikiert.
"Nein, aber Wolf. Und bei dem ist es eine Frage des Preises."
"Na schön. Sie haben Kontakt zu unseren Freunden, wie mir Herr Spehr berichtete. Richtig?"
"Und weiter?"
"Wir sind interessiert. Fahren Sie ins Baskenland und halten Sie uns von da auf dem Laufenden. Wenn auch nur die allerkleinste Hoffnung besteht, tiefer in diese Kreise eindringen zu können, sind wir dabei. Nächste Woche lassen wir Ihnen sechshundert Mark für Ihre Aufwendungen zukommen. Sind Sie einverstanden?"
Genüsslich strich meine Zunge über die Lippen. Warum zögern? Ich liebte das Geräusch knisternden Papiergeldes. Allein die bloße Vorstellung daran brachte mich nah an eine Erektion. Natürlich nahm ich das Angebot an.
"Wir schicken es Montag oder Dienstag ab. Zeitgleich wird sich mein Kollege bei Ihnen melden. Mit ihm können Sie dann alles Weitere besprechen."
"Aber nicht vor zweiundzwanzig Uhr dreißig."
Das war wichtig, um ungestört sprechen zu können. Kurz nach 22 Uhr schloss die Konditorei. Wenig später entnahm Biggi die Tageseinnahmen der Kasse, brachte sie zur Bank und fuhr anschließend heim. Ulli war um diese Zeit längst weg. Ich hatte einen eigenen Schlüssel, den Ulli anfertigen ließ, als ich zusagte, mittwochs seinen Laden zu hüten.
"Sie werden selbst rangehen, nehme ich an. Von uns spricht keiner die Sprache von da unten", und legte auf.

Die Sprache von da unten? Welche wird das wohl sein?
Auf die Rückseite eines herumliegenden, von einem Kunden verschmähten Kassenbon schrieb ich: "Bin im Büro! W.", und legte das Schnipsel ungefähr in die Mitte des Verkaufsraumes, auf die einzige schokoladenfarbene, inmitten fahlbraun glasierter Bodenfliesen aus gebranntem Ton.
Zur Feier des Tages genehmigte ich mir Kurzurlaub im MANICOMIO. Das Irrenhaus, wie es frei übersetzt hieß, lag keine fünfzig Meter von meinem Arbeitsplatz entfernt.
Pedro kam von der Toilette, rieb die Handflächen schnell und kräftig aneinander, als sei ihm ein ganz besonders guter Wurf gelungen und nickte mir beiläufig zu. Ich grüßte mit erhobenem Arm zurück, ging an drei älteren, Kaffee schlürfenden Männern vorbei seitlich um die Theke herum und nahm mir ein feuchtes Putztuch vom Spülbeckenrand.
Draußen befreite ich die Sitzfläche eines Stuhles vom Straßenstaub und setzte mich an einen der kreisrunden weißen Plastiktische, die Pedro jeden Morgen einladend vor dem Café am Straßenrand aufreihte. Nur geputzt hat er sie schon seit neun Jahren nicht mehr - aus Prinzip. Das Trinkgeld der Touristen sei zu mager, um auch noch die Putze zu spielen, sagte er mir einmal und verriet, unter der Bedingung, dass ich mich den Touristen gegenüber nicht verschwatze, wo ich ein ordentliches Putztuch fände. Sollte sich mal einer dieser Geizkragen bei ihm beschweren, was aber nur ganz, ganz selten vorkomme, dann entschuldigte sich Pedro für seine Angestellten, die er nicht hatte, weil er selbst der einzige Angestellte war, und gab ihm einen Lumpen, der bestimmt (dabei sah er verschmitzt lächelnd in die Ferne und tat so, als versuche er sich zu erinnern) seit einem Jahr oder länger kein sauberes Wasser abbekommen habe. Reinigungsmittel sowieso noch nie. Viel zu teuer.
Ich lehnte mich zurück und sah über die Hauptstraße durch die kleine Gasse, von deren Ende mir die grünbraune Eingangspforte der deutschen Konditorei, Ullis "Pasteleria Alemana", zublinzelte. Er, Ulli, war es, der dem MANICOMIO den Beinamen "Wolfs Büro" gab, weil ich mich nahezu täglich, gelegentlich auch mal vom Morgen bis zum Abend, darin oder davor aufhielt.

Mein Büro war ein typisches spanisches Café. Ein Original - und urgemütlich. Seine Lage ideal. Unmittelbar an der Hauptverkehrskreuzung des Ortes gelegen, wurde es hauptsächlich von Einheimischen frequentiert. Zur Zufriedenheit Pedros, kehrten nur selten Touristen ein. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, Touristen mieden mein Büro, weil es ihnen zu schmutzig sei. Mumpitz!
Vielleicht wegen der paar grünweißen Papiertütchen am Boden? Für mich ein Ausdruck andalusischer Lebensqualität. Ein MANICOMIO ohne die unzähligen leeren Zuckerportionstütchen auf dem Boden, wäre es nicht mein MANICOMIO, sondern eine dieser öden Eckkneipen. Außerdem schob Pedros Frau zwei Mal täglich einen breiten, weichen Besen um die Tische. Abgesehen davon blieb es jedem unbenommen, sich die Taschen voller Müll zu stopfen.
Na gut, ich gestehe ein, die Toilette war tatsächlich ein wenig daneben. Ich probierte sie aus. Nur ein Mal. Und dass lag auch schon einige Monate zurück. Gut, sie war eng. Dafür aber ohne beißenden, die Magenschleimhäute bis zum Würgreiz kitzelnden Desinfektionsgestank. Es roch mehr nach einer Abdeckerei, bei der seit Tagen Kühlsystem und Klimaanlage ausgefallen sind.
Und dreckig war sie auch nicht. Ich meine, es lag nichts herum, was eigentlich in den Topf gehörte. Und doch war mir als bekäme ich eine schlimme Infektion, einhergehend mit offenen Entzündungen, eiterigen Abszessen und unerträglichen Qualen, streckte ich die Hand nur nach dem Papier. Hinter die eigenartigen Lichteffekte bin ich nie gekommen. Fenster oder Lampe gab es nicht. Das heißt, ein fünfzig Zentimeter breiter und zehn Zentimeter hoher Schlitz über der Tür sorgte für mäßige, aber ausreichende Helligkeit. Nicht zu vergessen, dass an Orten wie diesem ohnehin mehr der Tastsinn gefordert ist.
Und dann waren da noch ein paar Fliegen, die rastlos umherschwirrten, sich an den Wänden niederließen und sie schwarz färbten. Vielleicht Hundert, vielleicht einige Tausende - was macht das schon, wenn eine Schmeißfliege genügt, einem zum Mörder werden zu lassen.
Beim Vorüberschlendern jedenfalls war von alldem absolut nichts wahrnehmbar.
Ich liebte dieses Café! Und es gab viele gute Gründe, weshalb ich mich ausgerechnet hier so ausgesprochen wohl und behaglich fühlte.

Vier der Wichtigsten waren, dass es im MANICOMIO den besten Kaffee der Stadt, wohlschmeckende Paprikawürstchen und die leckersten Schweinsohren (Kunststück: die lieferte Ulli.) gab und mich niemand von oben herab wie einen unerwünschten Ausländer behandelte. Die Menschen waren zugänglich, freundlich, aufgeschlossen, ehrlich im Umgang mit Fremden und hielten ihre Versprechen. Nichts Aufgesetztes. Entsprechend höflich auch der Umgangston untereinander. Gründe genug, meinem Irrenhaus die Stange zu halten.

Da saß ich also in schönstem Sonnenschein am Straßenrand. Pedro eilte herbei und stellte ein Glas frisch gebrühten Kaffee mit Milch und Zucker vor mir auf den Tisch. Er brachte ihn, ohne gefragt zu haben. Und ich dankte ihm für seine Aufmerksamkeit - jedes Mal. Zeigte sie doch, dass ich zur Familie gehörte.
Bevor er wieder im Inneren verschwand, warf ich noch schnell einen Blick auf sein weißes Oberhemd. Auf beeindruckende Weise legte dessen Verschmutzungsgrad Zeugnis über die Intensität seines Tagesgeschäfts ab. Es war ein ruhiger Tag.
Seit nunmehr über vier Monaten, also seit dem Tag als ich in Estepona, einem Ort mit ländlichem Flair, in dem bodenständige Menschen leben, eintraf und im MANICOMIO meinen ersten Kaffee trank, begeisterte mich dieser Teil seiner Berufskleidung. Eigentlich ging es mich überhaupt nichts an, auch verbarg sich kein tieferer Sinn dahinter - es erheiterte mich einfach nur.
Ganz anders der Bulle auf der Kreuzung vor mir. Von früh bis spät stand er bei über dreißig Grad im Schatten auf seinem der Sonne ausgelieferten kleinen rot-weißen Podest und ruderte mit den Armen, um mobilisierte Kleinstadtbewohner in ihrem Drang zu bändigen. Welche fantastischen Wasserspiele verbarg er wohl unter seiner Schirmmütze und der dunkelblauen Uniform? Manchmal gönnte er sich, so um die Mittagszeit, wenn die Glut ihren Höhepunkt erreichte, einen Kaffee im MANICOMIO und tat, wozu ich mich nur ein Mal überwand - er ging zur Toilette. Ich bemitleidete ihn.

Doch nahm ich all das an diesem Tag nicht wirklich wahr. Ich sah es wohl, empfand jedoch weder Mitgefühl noch Freude an dem, was mich Ansprechendes umgab. Selbst den hinreißend schönen Frauenbeinen, für die es gewöhnlich unmöglich war, sich meinen ungalanten Blicken zu entziehen, vermochte ich nichts abzugewinnen. Und der Kaffee hatte einen bitteren Beigeschmack. Irgendwie war alles anders an diesem Tag. Dabei gedachte ich doch, meinen verheißungsvollen neuen Job zu begießen. Ich wollte feiern und glücklich sein. War ich noch ich selbst? Mir ging es doch gut. Ich fühlte mich ...
Es klingelte. Unablässig schrillten um mich herum Telefone. Aus unzähligen Hörern hörte ich die Stimme Bernhards. An jedem Apparat dasselbe. Bernhard, überall Bernhard. Ich verstand nicht, was er sprach. Was wollte er? Warum legte er nicht auf?
"Leg endlich auf, du nervst!", sagte ich und war wohl eine Spur zu laut. Pedro, der mir einen weiteren Kaffee brachte, sah argwöhnisch zu mir herab, schüttelte zweimal kurz den Kopf, ohne dass sein pomadisiertes schwarzes Haar der kleinsten Schwingung ausgesetzt wurde, nahm das leere Glas vom Tisch und ging mit einem feinen Lächeln auf den Lippen zu dem reiferen Touristenpaar am übernächsten Tisch. Er sagte kein Wort. Jedenfalls nicht zu mir. War auch besser so.
Ich warf meinen Zigarettenstummel auf die Straße und zündete mir eine neue Zigarette an. Meine Gedanken mussten von dieser wackeligen Ebene runter.

Wenige Stunden nach meiner Ankunft im Februar wurde ich in diesem 20.000 Einwohner zählendem Städtchen an der südspanischen Mittelmeerküste zur Zielscheibe des Dorfklatsches. Vor allem an meinem sorgfältig ausgewähltem Äußeren zogen sich die Schwätzer hoch. Mein kurz geschorenes Haar und den dichten, schwarzen, weich auf die Brust fallenden Vollbart ließen sie gerade noch durchgehen. Und meine schwarze Stoffmütze, von so manchem unzutreffend als Schlägerkappe abgewertet, meine schwarze Motorradlieblingslederjacke, die schwarze, hautenge Lederjeans und die, natürlich ebenfalls schwarzen, spiegelblank polierten, Springerstiefel erregten ohnedies nicht nur in Estepona und an der Costa del Sol Aufsehen. Ich drängte sie nicht, hinter mein einnehmendes Naturell zu steigen. Und doch beruhigten sich die Gemüter bald.

Nach ein paar Tagen hatte es sich bis zu den Obertratschern herumgesprochen, dass ich nicht in ihr Paradies einfiel, um ihren Töchtern die Unschuld zu rauben, um ihre Söhne zu verprügeln und selbst bei Vollmond kein Neugeborenes vertilgte.
Viele schlossen mich seitdem in ihr Herz. Nicht zu fest. Aber für eine Umarmung reichte es allemal.
Geschäftsinhaber, so auch die meines MANICOMIO, räumten mir plötzlich das Privileg ein, zwischen Anfang Mai und Ende Oktober nicht die sich verdreifachenden Touristenpreise, sondern weiterhin die der Einheimischen zu zahlen. Und wenn ich mal nicht einschlafen konnte und nach dem Gong zur Polizeistunde in die eine oder andere Bar Einlass begehrte, genügte ein vereinbartes Klopfzeichen - gewissermaßen ein Sesam-öffne-dich für Insider. Selbstredend machte ich lebhaft Gebrauch davon.
Auch wenn ich viele meiner neuen Freunde zunächst nicht kannte und die meisten, die ich nach und nach kennenlernen musste, nicht ausstehen konnte, war Bescheidenheit fehl am Platze. Schließlich machten sie mich doch zu einem von ihnen. Und, unter uns gesagt, ich war nicht abgeneigt, einer von ihnen zu sein.

So stand es also um mich. Eigentlich konnte ich nicht meckern. Wirklich nicht. Aber Bernhards Anruf warf mich schon ein klein wenig aus der Bahn. Ich leerte mein Glas, zahlte und ging wieder in die Konditorei. Weshalb gab Spehr den Inhalt unseres letzten Telefongesprächs weiter? Er kam mir sehr entgegen, aber nett war es nicht. Nicht dass mich Spehrs Verhalten in irgendeiner Weise belastete. Oh nein, ganz im Gegenteil.
Ich wollte ihn anrufen, doch in München blieb es still. Bis kommenden Montag musste ich in Erfahrung gebracht haben, welcher Spezies Bernhard zuzuordnen war.
Sicherlich hatte ich eine Vermutung. Doch eine Bestätigung Spehrs würde mir Klarheit verschaffen.

Die folgende Nacht verbrachte ich mal wieder bei Teresa, einer fünfunddreißigjährigen Spanierin. Ich nächtigte oft bei ihr und sparte so ein ganz hübsches Sümmchen Hotelkosten. Ich mochte sie recht gern. Vor allem ihrer Kontakte zu Personen, die mir beachtenswert erschienen, wegen. Sie war Kommunistin, blond und kannte jeden - und sei es ein noch so schräger Vogel. Entsprechend setzte sich die Kundschaft in ihrer Bierbar zusammen. Gelegentlich hatte ich den Eindruck, diese Frau sei mit all jenen freundschaftlich verbunden, die ihr jemals über den Weg gelaufen sind. Wie ein Sperrmüllverwerter lud sie auf, was am Straßenrand herumlag. Streckenweise wurde mir richtiggehend unheimlich an ihrer Seite. Ob in ihrer Kneipe, beim abendlichen Spaziergang am Strand oder in der Disco - unaufhörlich begrüßte sie irgendwelche Leute.
In ihre Aura traten Exponenten so erlesener Kreise wie Drogenschmuggler, Polizisten, Schläger, Richter, Zuhälter: die Hautevolee eben.
Teresa war kein Cover-Girl. Bei Weitem nicht. Sie war viel mehr als das. Sie war eine hochintelligente, überaus interessante Frau. Eine beeindruckende Persönlichkeit, von welcher eine mir unerklärliche Magie, eine magnetische Kraft aus ging.
Einige Wochen nach dem Aufbau meiner Zweckverbindung mit ihr schnitt ich mir die geeignetsten Stücke aus ihrem Bekanntenkreis, um über sie Kontakte zur ETA herzustellen. Ein reines Privatvergnügen.
Sie müssen nämlich wissen, ich hatte eine ausgesprochen abgrundtiefe Abneigung gegen Terroristen.

"Mit wem spreche ich?"
"Mit mir?"
"Wäre mir doch fast entgangen", entgegnete sie frostig.
Merke: Flirte niemals mit einer Beamtin.
"Reiter."
Ich hatte viele Namen. Der hier stand nicht auf der Geburtsurkunde.
"Einen Moment bitte!"
Anderthalb Tage nach Bernhards Anruf bekam ich Spehr vom bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz an die Muschel. Nach dem unvermeidlichen Vorgeplänkel, bei dem wir wechselseitig nach dem Befinden des anderen forschten, um uns gleich darauf in bilderreichen Worten über die Witterungsverhältnisse in München und Estepona auszutauschen, fragte ich: "Ist Ihnen ein Herr Bernhard bekannt?"
"Der große Bruder." Spehr lachte kurz und laut. "Haben die sich bei Ihnen gemeldet?"
Vor einigen Jahren einigten wir uns auf die Synonyme großer Bruder für den Bundesnachrichtendienst und kleiner Bruder für den Verfassungsschutz. Es machte sich besser in der Öffentlichkeit - man kommunizierte ungezwungener. Überaus treffend waren sie zudem. Denn wie in vielen deutschen Familien, bestand auch zwischen diesen Brüdern keine ausgeprägte Geschwisterliebe.
"Ich vermutete es. Bernhard verschwieg seinen Stall."
"Die Spanier zeigten auch Interesse. Doch offenbar war diesmal ausnahmsweise der große Bruder auf Zack. Ist auch nicht das Schlechteste. Ich habe ausführlich mit Bernhard gesprochen. Die wollen Sie für diesen Einsatz."
"Hatte ich Sie um eine Vermittlung gebeten?"
Jetzt musste ich aber mal dick auftragen. Spehr sollte sich nicht in dem Gedanken, ich sei auf diesen Job angewiesen verfangen.
Ihnen kann ich es ja verraten: Angewiesen war ich wohl nicht, hatte ihn aber bitter nötig. Viel länger als geplant hielt ich mich nun schon in Spanien auf. Und mit jedem weiteren Monat reklamierte mein Geldbeutel vernehmlicher nach Ballast.
"Bringen Sie die Sache zu einem für alle Seiten akzeptablen Ende, Reiter. Dann sehen wir weiter. Haben Sie keine Sorge, wir kümmern uns auch weiterhin um Sie. Ah ja, und wenn Sie im Baskenland sind, rufen Sie mich bitte an. Pfüeti und viel Glück!"
Danke. Aber warum sollte ich anrufen? Spehr legte auf, noch bevor ich meine Frage zu Ende gedacht hatte.

Übers Wochenende ging ich wieder auf Tour, wie ich meine ausgedehnten Streifzüge durch Piano-Bars, Klubs und Diskotheken gern umschrieb. Tomas stand mir wie immer hilfreich zur Seite. Er öffnete mir Türen, die mir ansonsten verschlossen blieben. Davon gab es tatsächlich noch einige.
Tomas, ein vierundvierzigjähriger Franzose spanischer Abstammung, der in Zahnmedizin, Allgemeinmedizin und plastischer Chirurgie promovierte, verdankte ich, dass ich trotz meiner nicht eben unauffälligen Erscheinung zu jeder noch so versnobten Lokalität an der Costa del Sol ungehindert Zutritt erlangte. Obwohl es für meine kleine Geschichte nicht relevant ist, erwähne ich es dennoch. Schließlich kann nicht jeder von sich behaupten, einen Menschen mit drei Doktorwürden zum Freund zu haben.
Zu den Eigenarten meines kurzen dickbäuchigen Freundes gehörte, sich unaufgefordert neben dem Pianospieler niederzulassen, die stets mitgeführte Gitarre zu ergreifen und in das angespielte Stück einzustimmen. Erstaunlicherweise gab es niemals Reibereien mit den Musikern oder dem Personal. Vielleicht, weil ihn der Klang seiner Musik in eine Art Trancezustand versetzte. Tomas spielte nicht einfach, er liebkoste. Jeder Ton entlockte ihm ein Lächeln, ließ ihn ein Stück weiter über sein Instrument sinken bis nur noch ein breiter Scheitel und eine zärtlich streichelnde Hand über den Saiten zu sehen war, so als wolle er eindringen, aufgehen, eins werden mit der Musik. Vermutlich aber lag es vor allem daran, dass er ein erstklassiger Gitarrist war. Denn Tomas studierte auch Musik - am Lyoner Konservatorium.
Anders als Teresa bevorzugte Tomas eine eher gediegenere Klientel, was mit meinen Interessen durchaus konform lief. Wenn auch eine äußerliche Trennung von meinem neuen Arbeitsgebiet nicht opportun war, so musste ich doch auf einen ausgewogenen inneren Ausgleich achten.

Als mein Brummschädel und ich am Montagmittag in die Konditorei schauten, war Biggi mit dem reinigen des Verkaufsraumes beschäftigt.

Ich wechselte nur wenige Worte mit ihr. Genau genommen murmelte ich einen verstümmelten Morgengruß und erholte mich beim Blick auf ihr wohlgeformtes Hinterteil. Gott, hatte die einen Arsch! Eine Frechheit, wie der beim Boden wischen zur Geltung kam. Zwar mochte ich sie nicht sonderlich leiden, konnte mir aber nur selten diesen oder jenen Hingucker verkneifen. Biggi war eine ebenso gut aussehende wie gut gebaute zweiunddreißigjährige Blondine. Die Schale konnte nicht leckerer sein, doch das Früchtchen faulte von innen her. Während ihr Mann von morgens 3 Uhr bis abends 20 Uhr schuftete, schwitzte und seinem Körper die letzten Reserven abforderte, fand sie sich irgendwann im Laufe des Tages ein, trank Kaffee, unterhielt sich mit Kunden und verschwand nach einiger Zeit wieder, um sich am Strand von Sonne, Wasser, Wind und hübschen Jungs verwöhnen zu lassen. Für den Verkauf zeichnete derweil eine spanische Angestellte verantwortlich.
Mit einem ihrer Schönlinge setzte ich mich vor etwa drei Wochen auf der Toilette einer Bar im Jachthafen über Etikette und gutes Benehmen auseinander. Seither hat sie einen Neuen.
Ulli wusste vom Treiben seiner Frau und sah darüber hinweg. So groß und bullig der Kerl, so groß auch sein Herz.
"Noch fünf Jahre, dann muss der Laden ohne mich brummen", lautete seine Standardreaktion, schnitt ich das Thema an. Was er meinte, war: Die Konditorei in den nächsten fünf Jahren soweit in Schwung zu bringen, dass er sich zufrieden über das, was er geschaffen hatte, sorgenlos zur Ruhe setzen und einem anderen die Plagerei überlassen könne. Mir aber entging das Rumoren, das er an sieben Tagen die Woche über einen Siebzehnstundentag zu kompensieren suchte, nicht.

Kennen lernte ich die beiden eher zufällig auf einem Zwischenstopp meiner Reise nach El Salvador, von wo mir ein recht einträglicher Job angeboten wurde.
Achtunddreißig Stunden zuvor brach ich in Nürnberg auf und hatte mehr als zweieinhalbtausend Kilometer hinter mich gebracht. Meine Fahrt unterbrach ich bis Estepona nur ein Mal - für drei Stunden. Unter Zeitdruck stand ich eigentlich nicht. Den Druck machte ich mir wie üblich selbst.
Einigermaßen gut gerädert und hundsmüde strebte ich meine Wiederbelebung über ein paar Tässchen Kaffee an. Es war sieben Uhr am Morgen, als ich auf der Suche nach dem Elixier durch Estepona torkelte.
Für die letzten knapp sechzig Kilometer musste ich fit sein, denn ich plante, in La Linea mein kleines rotes Auto bestmöglich zu verscherbeln und die nächste Maschine von Gibraltar nach Großbritannien zu nehmen. Von da sollte es dann weiter nach El Salvador gehen. Den kleinen Umweg nahm ich gerne auf mich.
In La Linea, hatte ich in Erfahrung gebracht, bekäme ich fast das Doppelte dessen, was mir die Händler in Deutschland für meinen Wagen boten. Na gut, dabei würde es nicht ganz mit rechten Dingen zugehen. Aber was kümmerte mich das. Daneben sparte ich auch noch bei den Flugkosten, weil die Briten Passagen von Gibraltar nach London als Inlandsflüge abrechneten. War doch auch nicht zu verachten.

Nichts ahnend taumelte ich in das Café‚ mit dem köstlichsten Muntermacher weit und breit. Von meinem Tisch, in der Nähe des Seiteneingangs, sah ich durch die offenstehende Tür in eine schmale Einbahnstraße.
Doch schon nach fünfzig Metern schob sich ein Ungetüm in die Gasse und versperrte mir den Blick auf alles dahinter liegende. Unnachgiebig wie ein geschliffener Fels in der Brandung nötigte es Mensch und Maschine, ihm auszuweichen. Entweder neunzig Grad scharf nach links in eine Seitengasse oder in einem Bogen rechts um es herum. Beleidigt erhob ich mich, um den Tisch zu wechseln, als das Schild über dem Eingang des Gebäudes meine Neugier weckte. Ein weißes, offenbar recht neues Schild mit einer warmen, künstlerisch leicht geschwungenen, tiefschwarzen Schrift - wenige Zentimeter oberhalb des Sturzes angebracht. Ein sehr ansprechendes, pieksauberes Schild und irgendwie gar nicht spanisch.

Ich setzte mich und visierte das drei mal drei Meter große Objekt an. Meine Augen schmerzten, verlangten nach Ruhe, etwas Schlaf vielleicht. Doch ich blieb unerbittlich und schob den Kopf nach vorn, als ob ich dadurch wesentlich näher herankäme.
"Muss ich extra aufstehen? So weit kommt’s noch, dass ich wegen des saudummen Dings meinen Kaffee vernachlässige", brummelte ich, wandte mich ab, zündete mit zittrigen Fingern eine Zigarette an, bestellte den nächsten Kaffee, stand auf und ging zur Tür. Jetzt wollte ich es wissen. Ich verengte meine tränenden Augen zu schmalen Schlitzen und starrte verbissen hinüber. "Pasteleria Alemana", las ich mir laut vor. "Wusste ich doch gleich, dass da was draufsteht, das kein Aas versteht", und ging zur Toilette.
Ab und zu führe ich Selbstgespräche oder Monologe - je nachdem. Dafür singe ich nicht in der Badewanne.
Nach dem vierten Glas Kaffee besann sich mein Hirn seiner Bestimmung und signalisierte sogleich, dass Alemana irgendetwas mit Deutsch zu tun haben müsse. Wohl, weil ich dahinter eine Anlehnung an das französische Wort für Deutsch vermutete. Kurz entschlossen zahlte ich, ging nach drüben und klopfte an. Die Tür blieb verschlossen. Eine schmale, in der Mitte geteilte, beide Flügel zu öffnende Tür, wie ich sie in dieser Gegend häufig an kleinen Geschäften in älteren Bauten, auch im MANICOMIO, antraf. Ich trat zwei Schritte zurück und suchte die Fassade nach einem Fenster ab, fand aber keines, das sich dem Laden zuordnen ließ.
Also klopfte ich nochmals, diesmal kräftiger gegen das Holz, von dem sich grünbraune Farbblättchen lösten und ein darunter liegendes schmutziges, dunkles Braun sichtbar machten. Die Oberfläche erinnerte mich ein wenig an einen missratenen Käsekuchen, dessen goldbraune Deckschicht im Backofen Blasen aufwirft, bis sie nacheinander zerplatzen und die aufgedröselten Ränder unappetitlich verbrennen, wodurch er noch verlockender wurde - und schmackhaft blieb er sowieso.

Sie meinen, der Vergleich hinkt? Na, wenn schon. Mir war so.
Flugs zog ich meinen Arm zurück. Mit einem unerwartet heftigen Ruck öffnete sich der linke Flügel nach innen.
"Cerrado!", fauchte mich ein rotgesichtiges, grimmig blickendes, hünenhaftes Muskelpaket an.
"Nicht möglich. Heißt das, ich muss mir die Knöchel nicht blutig schlagen, wenn geöffnet ist?"
Der blonde Teddy lachte. Ein tiefes, donnerndes Lachen. Die Augen vergruben sich im Gesicht.
Schon besser. Böse Blicke standen ihm nicht. Dieser Mann wirkte über seine Statur. Alberne Grimassen hatte er nicht nötig. Die sind was für Schwächlinge, nicht für einen Rammbock.
Sein wuchtiger Schädel neigte sich der linken Schulter zu, was ich natürlich sofort als Einladung interpretierte. Ich zwängte mich durch die schmale Öffnung an ihm vorbei und stand im Düster.
Nur ein kleines vergittertes Fenster, mehr ein Bullauge, nur eckig, weit oben in der rechten Außenwand, ließ gnädig einen kümmerlichen Streifen Tageslicht lustlos durch den zwanzig Quadratmeter großen Raum tänzeln. Er reichte gerade noch, um nicht über die beiden in rechtem Winkel aufgestellten gläsernen Kühltheken zu stolpern.
Es roch nach Schokolade und Mandeln und Butter und ... ich strich mit dem Handrücken über den Mund. Aber da war nichts, was herauslief. Weihnachten im Februar. Konditor müsste man sein. Blondie schloss die Tür ab und ich folgte ihm links hinter der Kühltheke entlang bis zum Ende des Verkaufsraumes. Als er die weiße Pendeltür aufwarf, holte ich tief Luft und presste die Augen fest zusammen. Das grelle Licht aus seiner Backstube versetzte meinen Augen einen schmerzhaften Schlag.
Nach drei Minuten hatte ich mich so weit aufgerappelt, dass ich Blondie nach seinem Namen, einer Tasse Kaffee und einem Aschenbecher fragen konnte - und schielte ganz beiläufig auf das Kuchenblech in seinen Händen. Er musste das Strahlen meiner Augen, gegen das sich leuchtende Kinderaugen wie ein flackerndes Feuerzeugflämmchen in einem ausverkauften Fußballstadion ausnahmen, gesehen haben.
Ulli bot mir einen Platz gegenüber dem elektrischen Etagenofen auf der Kühltruhe an. Ein angenehmes Gefühl bei den Treibhaustemperaturen seines Arbeitsplatzes. Ich fragte ihn, ob man um die Mittagszeit, wenn die dreißig bis vierzig Grad von draußen hinzukämen, in seiner Backstube so richtig schön saunen könne - gemischt, versteht sich. Er stellte zwei Tassen Kaffee neben mich auf die Kühltruhe und sagte Ja, als sei es die natürlichste Sache von der Welt.

Während ich auf der Kühltruhe saß und mich mit Ulli unterhielt, zwischendurch zwei weitere Kaffees trank und reichlich frischen, noch warmen Pflaumenkuchen mit dicken Butterstreuseln und reichlich Zucker darauf in mich stopfte, entschloss ich spontan, zwei oder drei Wochen zu bleiben. Ulli war ein viel zu netter Kerl und sein Kuchen viel zu vorzüglich, um gleich wieder darauf verzichten zu können. Und sein Kaffee war auch nicht der Schlechteste.
Nach ungefähr einer Stunde, ich saß noch immer auf dem schwarzen Deckel der Kühltruhe und lehnte an der kondenswasserfeuchten Wand, tauschten wir Sympathiebekundungen aus. Wortlos glitten sie von einem zum anderen.

Im Verlauf der folgenden Wochen entwickelte sich zwischen uns eine von Tag zu Tag fester werdende Freundschaft. Es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht miteinander sprachen oder herum blödelten. Etwa bei der Aufführung unseres imaginären Indianertanzes.
Ulli legte eine meiner ZZ Top-Kassetten in den Rekorder und schon wirbelte der Mehlstaub: Die Oberkörper seitlich, nach vorn und hinten wippend, die Arme nach allen Seiten werfend und dabei unaufhörlich mit den Füßen trampelnd, hüpften wir um die Teigknetmaschine und stimmten in einen Gesang unartikulierter Laute. Es kam auch vor, dass uns Kundschaft durch einen Spalt der nicht gänzlich geschlossenen Pendeltür beobachtete und nach unserer Einlage stürmisch applaudierten. Und ich kam mir dabei überhaupt nicht blöd vor. Ulli übrigens auch nicht.

Bevor ich über einen der verschlungenen Pfade des Lebens wandelte, tasteten meine feurig braunen Augen über Biggis weißberockten Po. Natürlich tasteten sie nicht. Sie klebten an ihm und ich hatte große Mühe, sie zu lösen, um sie auf etwas gewöhnlicheres zu richten - ein Frühstück nämlich, das ich mir auch gleich aus der Backstube holte. Doch kaum hatte ich mich erneut in Position gebracht und meinen lüsternen Blick auf sie gerichtet, klingelte das Telefon. Mit einer Prise zu viel Schwung kam sie geschmeidig auf die Beine. Ihre linke Brust purzelte aus der ein paar Knöpfe zu weit offenstehenden, eng anliegenden weißen Bluse. Ich hielt im Kauen inne, trank einen Schluck Milch und sah, forschend und unbeteiligt zugleich, ins Glas.
Nervös am Stoff zupfend ging sie um den Verkaufstresen herum zum Telefon und nahm den Hörer ab, um ihn gleich darauf am ausgestreckten Arm mir entgegen zu halten. Sie sagte nichts, sah mich nicht an.
Lustlos stieß ich mich von der Pendeltür ab, trat hinter sie, ergriff den Hörer und klemmte ihn zwischen Schulter und Ohr. Noch einmal biss ich von meinem Schweinsohr ab und schmatzte dann irgendetwas Unverständliches in die Muschel.
"Herr Fechter?"
"Hm."
"Mein Name ist Martin Seiler. Herr Bernhard hatte Sie bereits über meinen Anruf informiert?"
"Hm."
"Morgen werde ich Ihnen telegrafisch sechshundert Mark überweisen. Brauchen Sie mehr, lassen Sie es mich bitte umgehend wissen. Hier meine Nummer. Haben Sie Stift und Papier zur Hand?"
"Hm."
"Null, acht, zwo, fünf, null ist die Vorwahl. Dann: Sieben, null, drei, zwo. Die Einwahl von Spanien aus, die haben Sie sicher. Unter dieser Nummer erreichen sie mich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Melden Sie sich sofort, wenn Sie oben angekommen sind. Besteht auch nur die allerkleinste Hoffnung, in diese Kreise tiefer einzudringen, müssen wir uns umgehend zusammensetzen. Derzeit ist noch offen, ob ich zu Ihnen komme, Sie nach Deutschland kommen müssten oder ob wir uns in einem Drittland treffen. Vorab werden wir aber schon mal prüfen, ob in Deutschland etwas gegen Sie vorliegt. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?"
"Hm."
"Schön. Dann also bis demnächst."
"Hm."
Und was war jetzt das? Meine Gedanken waren ganz woanders. Ich legte auf und pflegte noch ein Weilchen die Erinnerung an Biggis Ausrutscher. Man, das war doch mal was an einem verkaterten Montag.

Was glaubte dieser Seiler, wer ich bin? Herr Oberstudienrat? Selbstverständlich hatte ich weder Papier noch Stift zur Hand - ich frühstückte. Meine Hände waren beschäftigt, wie auch meine Augen Reizvollerem folgten. Und in meiner Hose herrschte gespannte Unruhe. Die Telefonnummer merkte ich mir und notierte sie am Abend, nachdem sich meine Bewusstseinstrübungen weitestgehend aufgelöst und ich Sorbete angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass ich gegen Ende der Woche bei ihm vorbeischauen würde. Er freue sich schon, sagte er. Und dabei kannte er mich genauso wenig, wie ich ihn kannte. Aber trotzdem nett von ihm.

Meine gute Teresa brachte uns zusammen, als ich sie um die Vermittlung eines Jobs bat und ganz nebenbei meine Sympathien für die ETA erwähnte.
Vier Tage danach kam sie freudestrahlend ins MANICOMIO und überreichte mir, feierlich mit einem sabbernden Küsschen auf die Wange, eine leere Packung Fortuna. Auf die Innenseite der Zigarettenschachtel hatte sie mit ungespitztem Bleistift eine Telefonnummer gekritzelte. Es sei genau das, wonach ich suchte, sagte sie, und drückte mir gleich noch einen ihrer räudigen Schmatzer auf die Wange. Sorbete wisse Bescheid. Und einen wie mich könne man immer gebrauchen. Ich solle ihn anrufen und alles Weitere mit ihm besprechen. Teresa lächelte verliebt und wartete womöglich auf Zärtlichkeiten. Ihr abgestandener Atem bewahrte mich noch rechtzeitig vor einer unüberlegten Wiederholung einer unerfreulichen Erfahrung. Doch empfand auch ich Freude. War es doch der Erste greifbare Erfolg.
Dank Teresa verschob ich meine Reise nach El Salvador ein weiteres Mal und widmete mich stattdessen der spanischen Terroristen.

Das Postamt von Estepona war am malerischen Paseo parterre in einem hässlich, schmutzig grauen, ganz und gar nicht in die Umgebung passenden zehnstöckigen Betonklotz ohne erkennbaren Außenanstrich untergebracht. Keine fünf Meter vom Strand entfernt. Ein Mäuerchen, hinter dem sich die lose Anhäufung kleiner quarzhaltiger Mineralkörner und allerlei halb nackte Menschen ausbreiteten, begrenzte den Paseo, die beliebte Flaniermeile, auf der einen Seite. Auf der anderen, der Stadt zugeneigten, wuchsen prächtige, Schatten spendende Palmen empor dem wolkenlosen blauen Himmel, Bänke luden abgespannte Voyeure zum Verweilen ein und Wasserspender sorgten für die in diesen Monaten heiß begehrte Erfrischung.
Zwei Tage nach Seilers Ankündigung erkundigte ich mich nach der telegrafischen Überweisung. Hinter dem längsseits durch das schmucklose Postamt gezogene Holzbrett boten sich drei junge Männer zwei Kundinnen an. Sie machten ihre Sache auch ohne Glasabtrennungen und Ärmelschoner ganz gut, wie mir schien. Ich trat an den hinteren gestriegelten Jüngling heran und bat ihn, nach meinem Geldtelegramm zu sehen. Er beugte sich zur Seite, äugte umständlich unter das Holzbrett und schob seine Hände nach. Zuvorkommend lächelnd bejahte er kurz darauf meine Frage, weigerte sich aber zugleich, mir das Geld auszubezahlen. Mein Gesicht sei nicht zu erkennen, bemängelte er.
Wie ungeschickt und kleinlich Postbedienstete manchmal sein können. Bin ich etwa gegen einen Bus gerannt? Mitnichten. Dieser Mensch stieß sich an meinem naturbelassenen Haarkleid. Offenbar beeindruckte ihn die unschuldige Nacktheit auf dem Foto meines Reisepasses, den ich ihm mit meiner Bitte überreicht hatte.
Da stand ich nun mit meinem wild wuchernden Gesichtspelz und einem begrenzten Vorrat an Geduld. Sicher, oberflächlich betrachtet war die Ähnlichkeit zwischen dem Foto und mir gleich null. Doch deswegen rasieren? Ohne Krümelfänger bekäme ich möglicherweise mein Geld, zweifellos aber keinen Fußbreit auf das Terrain meiner Zielgruppe. Umsichtig eingesetzte Äußerlichkeiten öffneten so manch verriegeltes Tor.
Keine Frage, die Matte blieb dran.
Honigsüß lächelnd bot ich ihm, um Harmonie bemüht, einen direkten Vergleich mit dem bebarteten Konterfei meines Führerscheinfotos an. Stur lehnte er ab.

Nun hielt ich es für meine vornehme Pflicht, ihn darauf hinzuweisen, dass ich Willens, in der Lage und in der Verfassung sei, ihm wehzutun, wenn er nicht augenblicklich seine Haltung ändere. Er änderte: Streckte sich, trat drei Schritte zurück, schüttelte verneinend den Kopf und sah Hilfe suchend nach allen Seiten. Längst hatten seine beiden Kollegen bemerkt, dass zwischen uns die Luft brannte, ließen sich aber von ihrem Tun nicht abhalten - bis auf einen.
Er kam aus dem durch von der Decke zum Boden fließenden Milchglas abgetrennten, rückwärtigen Raum fragend auf mich zu: "Kann ich dir helfen, Wolfi?", und trat an den Tresen.
Wie kam er dazu, mich Wolfi zu nennen? Weil es alle taten? Wolfi! Wie abartig. Ich, der verniedlichte Wolf.
Irgendein Hirsch, aus vermutlich zarten Kindheitstagen, fing damit an. Und durch geheimnisvolle Kanäle sprach es sich weltweit herum. Seit ich denken kann, nennt mich jeder Trottel Wolfi. So als stünde es mir auf die Stirn tätowiert. Gefragt, und sei es nur aus Höflichkeit oder Neugier, wurde ich jedenfalls nie. Warum eigentlich Wolfi und nicht Wölfchen?
Ich erläuterte dem Herbeigeeilten den Sachverhalt in knappen emotionslosen Sätzen, woraufhin er seinem schmollenden Untergebenen anwies: "Zahl ihm das Geld aus! Er ist hier persönlich bekannt."
Ich quittierte ihm die Entgegennahme von 40.610 Peseten, faltete das Bündel Scheine und stopfte es in die rechte Hosentasche. Nicht eine Sekunde ließ ich die beiden aus den Augen. Das Klimpergeld nahm ich in die Hand, nickte meinem Fürsprecher zu und machte mich mit großen Schritten davon. Keiner dieser Geier sollte noch einmal über meinen Lohn richten dürfen.

Auch wenn er mich mit Wolfi ansprach, sah ich ihn doch nie zuvor. Einer alzheimerte. Ich hieß nicht Einer.
Rossmann hieß mein anonymer Wohltäter - der Kassenwart oder der Laufbursche. Wie auch immer: Entspannt vor meinem Büro sitzend, die Beine locker übereinandergeschlagen, eine gute Zigarette lässig zwischen den Lippen und ein kräftiges Käffchen in der Hand, las ich den vor mir auf dem Tisch liegenden Beleg des Geldtelegramms. Soso, ein Herr Rossmann hatte also am Vortag den Betrag am Münchner Flughafen eingezahlt und aufgegeben. Mehr war dem Streifen nicht zu entnehmen. Wie spannend. Mein guter Rossmann würde von nun ab hoffentlich öfter den Weg zur Post im Münchner Airport finden. Verträumt legte ich den Kopf in den Nacken - kein Wölkchen am Firmament.

*****

Wie alles begann, wissen Sie nun. Bliebe noch zu erwähnen, dass ich mich tags darauf von Ulli verabschiedete, es mir um die Mittagszeit in meinem kleinen roten Ford bequem machte und in nördliche Richtung losbrauste.
Womit wir an der Stelle wären, an welcher ich Ihnen begegnete. Natürlich nicht an exakt derselben. Wie Sie sich erinnern, war ich ein ganz klein wenig in Eile.

Meine Route führte mich vorbei an den verwitterten, vorgeblich unüberwindbaren Mauern des berüchtigten Madrider Gefängnisses. Kletterndes Grün bahnte sich den Weg hinauf. Putz bröckelte. Um seinen Ruf musste sich niemand sorgen - der ging ihm voraus. Nach allem, was man sich über diesen Knast erzählte, wünschte ich keinem eine längere Verweildauer als drei Minuten darin.
Ein Bett musste sich kaufen, wer den Luxus suchte. Gegen Cash, von Mitgefangenen. Handverlesene erledigten einfache Küchenarbeiten und das Fegen des Gefängnishofes. Die Mehrheit der Insassen musste sich nicht mit der Hoffnung auf Ablenkung durch Arbeit belasten. Auf andere Gesellschaftsspiele dagegen schon. Da gab es die, die ihren Überschuss an ungenutzten Energien über wohldosierte Aggressionsentladungen abbauten. Andere unterwarfen sich der schleichenden Verblödung. Dafür war reichlich Zeit. Brauchte sich keiner beeilen. So was kommt von alleine, kostet nichts und ist schmerzlos. Mir gegenüber behauptete Mal einer, er habe da drinnen dem Tod ins Auge gesehen. Geradezu unanständig maßlos übertrieben: Es kann nicht leben, wer den Tod gesehen.
Angeblich rechtfertigten es die örtlichen Besonderheiten, dass die deutsche Justiz für jeden in Spanien abgesessenen Monat gleich zwei anrechnete. Kein Spaß! Ein echtes Schnäppchen für jene, die in Spanien eingelocht und einige Monate später nach Deutschland abgeschoben wurden. Knast zum Spartarif. Nicht Meilen, Knasttage galt es zu sammeln.

Über Burgos und Vitoria erreichte ich kurz vor 3 Uhr San Sebastián. Unbehagen breitete sich in der Magengegend aus. Nicht übermäßig viel, aber doch ausreichend, um ein wachsames Auge in die Dunkelheit zu platzieren. In dieser Gegend galt es bis vor Kurzem noch als Chic, Fahrzeuge mit deutschen Kennzeichen abzufackeln. Natürlich war das Geschichte. Aber mulmig war mir doch ein bisschen. Gibt es nicht zu allen Zeiten fanatische Anhänger des Gestrigen? Und wer weiß schon, was gerade In ist.

San Sebastián schlief. Den Hinweisschildern nach Zumaia folgend, fuhr ich durch nahezu menschenleere Straßen. Zwei dunkle Gestalten besprühten eine Natursteinmauer mit dicken mehrfarbigen ETA-Parolen. Im Schritttempo glitt ein Polizeifahrzeug an ihnen vorüber. Die beiden Straßenkünstler brachte das nicht aus der Ruhe. Ihr Augenmerk galt einzig dem Graffito. Unter den eng anliegenden, olivgrünen Militärjacken zeichneten sich schmale Konturen ihrer Rücken ab.
Langsam rollten die forschen Ordnungshüter an ihnen vorüber und bogen rechts in eine gut ausgeleuchtete Seitenstraße.
Plötzlich erfasste mich ein grelles Licht. Ein Fahrzeug hatte sich mir unbemerkt von hinten genähert, das Fernlicht aufgeblendet und Kurs auf meine Stoßstange genommen. Warum überholte er nicht? Hatte er etwas gegen gut ausgebaute vierspurige Straßen? Oder zog ihn die unbedeutende Kleinigkeit meines Kennzeichens an? Unbedeutend? Kleinigkeit? Musste das sein. Schleicht sich von hinten ran. Wie feige!
Mein kleines rotes Auto habe ich bar bezahlt, der Aschenbecher ist nicht mal halb voll, es ist spät und ich sollte eigentlich müde sein. Da wird nicht gezündelt - nicht heute, ihr Spinner. Ich gab Gas. Preschte links am Polizeiwagen vorbei, lachte laut, bremste, schaltete in den zweiten Gang runter, rutschte rechts in eine Nebenstraße und drosselte mein Tempo. Die Polizei hielt Spur und Geschwindigkeit bei. Jetzt nur nicht die Orientierung verlieren. Das Licht folgte - holte auf. "Tritt drauf, Student!", rief ich und lachte noch lauter. Der Wagen kam näher. "Mach mir Angst, Spaßmensch! Huuuuu!" Ich fühlte mich hervorragend. "Ein Opel also! Gab wohl keine Autos?!", und lachte und lachte. Wieder trat ich das Pedal durch, bog links ab, kurz darauf noch mal. Stramm, stramm! Zwanzig Meter vor mir eine Ampel. Sie sprang auf Rot. Rot? Könnte ja jeder kommen. Beschleunigen, abbremsen, runterschalten, rechts auf die Hauptstraße, hochschalten und orientieren. Da war ich wieder. Das aufdringliche Licht verlor sich irgendwo weit hinten in der Dunkelheit. "Arbeitsscheue, charakterlose Windmüller! Pfui!" Gerade als es anfing richtig Spaß zu machen, kneift der Langweiler. Ob sich mehrere Personen im Opel befanden, konnte ich nicht erkennen.
Ich tat einfach so, als hinge er noch an mir dran: Radio an, Fenster auf ... und Bleifuß. Es war kühl. Sehr viel kühler als an meiner Costa del Sol. Aber nicht unangenehm. Die Brise trug den Geruch des Atlantiks mit sich. Ich riss meinen Mund auf und atmete tief ein. Wer fährt straff-sportlich durchs Baskenland? Moi!

Dreißig Minuten gepflegter Temporausch - und schwupp fand ich mich in Zumaia ein. Auch dieses Städtchen döste vor sich hin. Ich erspähte einen einsamen Passanten, hielt am Bordstein und stieg aus. Doch kaum hatte ich die Wagentür zugeschlagen, machte der andere einen Satz und fegte davon als sei ich hinter seinem Skalp her. Mit gerunzelter Stirn verhaarte ich und sah dem nächtlichen Jogger nach. Augenblicke später wirbelte er in einen Hauseingang. Er ging schlafen - und ich? Ich wollte mich nur nach einem weichen Hotelbett erkundigen.

Auf meiner Suche nach einem Schlafplatz überholten mich plötzlich fünf Landrover der Guardia Civil mit weit überhöhter Geschwindigkeit. Irgendetwas sagte mir, ihrem rotierenden Blaulicht zu folgen. Doch die Auskunft war falsch. Es führte mich weder in die Nähe eines Hotels noch auf die Spur huschender Nachteulen. Am Ortsausgang angekommen, parkte ich auf einer unbefestigten Freifläche neben der Straße. Einige Minuten sah ich noch auf den Atlantik hinaus. Ich suchte nicht das Schwärmerische, und abenteuerte auch nicht. Danach stand mir wahrlich nicht der Sinn. Schläfrig schaute ich in die Ferne, lauschte der besänftigend rauschenden Brandung und leerte meinen Kopf. Entspannt legte ich die Füße auf den Beifahrersitz und schlief erholsame sechs Stunden.

Nachdem ich mir am Morgen auf der Toilette eines Cafés die Nacht aus dem Gesicht gewaschen hatte, stärkte ich mich bei einem ebenso guten wie reichlichen Frühstück, bestehend aus Milchkaffee und sieben verschiedenen Kuchenteilchen.

Mein Hemd roch nach den Aktivitäten des vergangenen Tages. Für gewöhnlich wusch ich Hemd, Wäsche und Socken allabends mit Shampoo und schlüpfte morgens in duftige Frische.
Einige Wochen zurück, fragte mich Biggi, ob ich nur ein Hemd besäße, und dann ausgerechnet auch noch ein schwarzes. Dem hochmütigen Tonfall ihrer Stimme und dem abschätzigen ihres Blickes entnahm ich die Antwort, die sie sich selbst gab: Drecksau!
Wahrscheinlich lag dem törichten Kuchenrand diese Frage schon seit Langem auf der Zunge. Doch an diesem Tag müffelte mein Hemd nicht. Wirklich nicht! In meiner liebenswert galanten Art zeigte ich mich verständnisvoll und belehrte sie, dass die meisten Männer nur zwei Hemden hätten:

Eines für jeden Tag, und das gute, gestärkte Weiße für Beerdigungen. Mehr Hemden braucht kein Mensch. Und ich noch weniger, weil ich an Beerdigungen prinzipiell nicht teilnehme. Für ihre, versprach ich, würde ich eine Ausnahme machen und mir ganz bestimmt auch ein weißes Hemd zulegen.
Ehrlich, niemals zuvor sah ich einen Menschen, der imstande war, durchdringend fiebrig wie ein scheues Wildpferd zu schnaufen und gleichzeitig seine Farbe chamäleonartig im Bruchteil einer Sekunde vom Haaransatz bis zum Busen von gedecktem Goldbraun in funkelndes Feuerrot zu wechseln. Ein grandioser Kontrast zum Stroh auf ihrem Kopf, das sich zu meinem Bedauern nicht entfachte. Tief beeindruckt drehte ich ihr den Rücken zu und stieß die Tür zur Backstube auf.

Gesättigt und allerbester Laune machte ich mich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Fünfzig Meter die Straße hinunter, am Rande einer parkähnlichen Anlage, wurde ich fündig.
Drei auf einer Bank sitzende Mütterchen unterbrachen ihr Schwätzchen, als ich mich ihnen näherte. Misstrauisch überwachten sie jede meiner Bewegungen. Kein Grund zur Panik, Ladys: Als Gourmand verspeise ich herumlungerndes Rentnervolk grundsätzlich erst dann, wenn es besonders gut im Saft steht - nach Sonnenuntergang. Ich grüßte freundlich und verschwand in der Kabine.
Unter Sorbetes Anschluss meldete sich eine Frau. Gedrängt, aber für einen nicht eben perfekt spanisch sprechenden Ausländer verständlich formuliert, forderte sie mich auf, Zumaia umgehend zu verlassen und am kommenden Tag nochmals anzurufen. Ohne nähere Erläuterungen legte sie auf.
Der gehetzten Empfehlung gehorchend fuhr ich ein Stück meines Weges der letzten Nacht zurück und schlug mein Lager in Zarautz auf. Bei Tageslicht und in angemessener Fahrweise bot diese Stadt gleich ein ganz anderes, ein vielversprechenderes Bild von sich.
Ein hübscher kleiner Ort mit rot bemützten Polizisten - oder was immer da den Verkehr verregelte. Ich folgte der Richtung ihrer rudernden Arme in eine Nebenstraße, die sich ein paar Häuserblocks weiter vor einer begrünten Insel teilte. Noch bevor mich Gedanken über den einzuschlagenden Weg verwirren konnten, stellte ich meinen Wagen ab und machte mich auf, unbekanntes Terrain zu erkunden. Aus irgendeinem Grund schwenkte ich nach Westen - und wurde auch gleich fündig.

Im Hostal Alameda, einem kleinen, unscheinbaren, dreistöckigen Eckhaus, mietete ich ein Zimmer für die Nacht.

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und in eine bis zum Kinn hochgezogene dicke Wolldecke gerollt, lag ich frierend auf dem Bett meiner bescheidenen Unterkunft und sehnte mich nach der wärmenden Sonne des Südens. Unversehens sprang ich auf, kämpfte den in mir tobenden Widerstand gegen nasskaltes Hundewetter tapfer nieder, verschloss mein Zimmer und stieg die Treppe zur Rezeption hinab.
Auf der vorletzten Stufe hielt ich inne - und den Atem an. Am Empfang saß ein zierliches, etwa zwanzigjähriges Mädchen. Den Kopf in beide Hände gebettet. Träumerisch sah sie durch die gläserne Eingangstür, vier oder fünf Meter vor ihr. Die Tochter des Hauses, unterstellte ich, obwohl sie ihrer Mutter kein bisschen ähnelte. Denn die wildgeschminkte Chefin, wenn es denn die Chefin und zugleich ihre Mutter war, bei der ich mich einschrieb, zählte etwas mehr als das Doppelte an Jahren, trug eine schlecht sitzende falsche schwarze Mähne und brachte locker das Dreifache auf die Waage.
Etwa zwei Minuten bewunderte ich ihr rotes schulterlanges Haar, machte kehrt und stürzte die Holztreppe hoch. Das ist wörtlich gemeint. In meinem Tran verfehlte ich nämlich eine der blöden Stufen und stolperte. Doch gelang es mir, mit einem eleganten Schlenkerich die Peinlichkeit des Hinabfallens im letzten Moment abzuwenden. Vorbei an sechs Türen eilte ich den Flur entlang in mein Zimmer. Hatte ich doch tatsächlich Geldbeutel und Adressbuch vergessen.

Cool, wie Wölfe nun einmal sind, bat ich, wieder im Parterre, die blasse Schönheit das hoteleigene Telefon benutzen zu dürfen. Sie nickte kühl und distanziert und deutete mit dem Kopf auf den himbeerfarbenen Apparat zu ihrer Rechten. Für einen Moment glitten ihre Augen über mich hinweg. Nur ein winziger Moment - und ich war hingerissen. Ich benetzte die Lippen und schluckte schwer. Noch einmal hob sie die Augen, senkte sie jedoch sogleich wieder. Doch konnte ich es sehen: Glühende Sehnsucht, ruhelos lodernde Leidenschaft - die pralle Lebensfreude. Sie hatte wunderschöne große, strahlende, grüne Augen, in denen sich alle Annehmlichkeiten eines sorgenfreien Lebens vereinten.

Sah ich jemals zuvor eine vergleichbare Anhäufung unaufdringlicher, natürlicher Anmut? Nein, niemals. Sie hätte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.
Mein Puls beruhigte sich nur langsam. Ich wählte Seilers Nummer und folgte der Ansage eines Anrufbeantworters. Eine Frauenstimme wies in deutscher und englischer Sprache auf die Nummer des Anschlusses hin. Nach dem Piepton vertraute ich der Maschine meine gegenwärtige Telefonnummer an und bat um Rückruf bis zwanzig Uhr. Als ich den Hörer aufgelegt hatte und mich meiner grünäugigen Schönen zuwenden wollte, war sie verschwunden.
Benommen schaute ich um mich und entdeckte sie hinter der kleinen Bar im angrenzenden Speiseraum. Eilends, so als könne mir jemand einen der drei Barhocker streitig machen - es war niemand da, aber das störte mich nicht -, hastete ich nach nebenan und rutschte lässig auf den mittleren.
Meine Lederjeans quietschte über den roten Lederbezug. Sie sah auf. Ihre Augen! Jesus, was für eine Frau! Geschickt meine Gefühle verbergend, sah ich in ihr zartes, fein geschnittenes Gesicht mit der kleinen geraden Nase und den schmalen Lippen und fühlte mich plötzlich sehr klein und federleicht.
Aus irgendeinem Grund verlangte es mich nach Waldmeisterlimonade, obwohl ich dieses moosgrüne Gesöff, das mich an etwas erinnerte, das im Hals steckt und nur mit Mühe herausspringt, verabscheute. Allein in meinem bescheidenen spanischen Wortschatz fand sich keine Bezeichnung für Waldmeister. Also versuchte ich es mit grünem Wald und Förster. Sie verzog keine Miene. Weshalb lächelte sie nicht? Litt sie an einer seltenen Gesichtslähmung oder Glatze im Mund? Offengestanden, allmählich regte mich die Frostmaus auf. Trampelte mir ungeniert auf dem Sack herum. Natürlich verhedderte ich mich auch noch und stotterte wie ein verlegener Schuljunge um die dämliche Waldmeisterlimonade herum. Nach dem vierten Versuch gab ich entnervt auf und bestellte einen roten Martini on the Rocks.

Irritiert spielte ich mit meinem Glas. Ich weiß nicht, was mich in ihrer Nähe hielt. Vielleicht die Suche nach dem Knopf im Ohr, vielleicht die Erwartung, sie trete nahe genug an mich heran, um einen Hauch, eine winzige Spur ihres Geruchs zu erhaschen oder die Hoffnung, sie möge ein paar Gläser zerschlagen damit ich gehässig und weithin hörbar lachen könne.
Um sie erneut anzusprechen, sträubte sich etwas in mir. Ich vermochte es nicht, meine pubertäre Hemmschwelle zu überwinden.

Ergo verlegte ich mich auf das höchst unbefriedigende zählen der Gläser und Flaschen im verspiegelten Regal mir gegenüber an der Wand hinter der Bar. War ich durch, begann ich von Neuem. Dazwischen bestellte ich weitere Martinis - und versumpfte.

Irgendwann füllte sich der Saal. In den Zwischenräumen der siebenundzwanzig angebrochenen Flaschen und fünfundsechzig umgestülpten Gläsern spiegelte sich, was zwölf Hunger leidende Gäste hinter meinem Rücken veranstalteten.
Da gab es jene, die bei der Nahrungsaufnahme nicht nur den Mund öffneten, sondern das gesamte Gesicht zu einer abstoßenden Grimasse entstellten. Oder jene, die gleichgültig vor sich hin schmatzten und so jedem an ihrem Tun teilhaben ließen, und auch jene, die mit dem Besteck hantierten als benutzten sie es zum ersten Mal, und dass auch nur, weil ihre Forke nicht zugelassen wurde. Und doch verband sie eine Gemeinsamkeit: ihre verstohlenen Blicke, die sie mir immer wieder zuwarfen. Wollte mich dieser fressende Mob ärgern, gar provozieren?

Ich stieg auf Jack Daniels um und hoffte ... Ja, auf was hoffte ich eigentlich? Schönes Wetter? Ein Zeichen von ihr? Vielleicht ein Lächeln? Oder auf Seilers Anruf, um beizeiten ins Bett gehen und ausschlafen zu können?
Seiler rief nicht an. Und als kurz nach 23 Uhr ein völlig unerotischer Opa meine Schönheit ablöste, stapfte ich ärgerlich zur Rezeption und hinterließ auf Seilers Telefonbutler, dass ich seinen Anruf am folgenden Morgen bis spätesten 10 Uhr erwarte. Um diese Zeit müsse ich nämlich mein Zimmer räumen.

"Waaaas?", knurrte ich schläfrig, als das Klopfen an der Tür kein Ende nahm. "Sie wünschten, sechs Uhr geweckt zu werden."
Pumuckl?! Schlagartig war ich hellwach. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, presste ein aufgeregtes "Muchas Gracias!" in Richtung Tür, fand meine Hose auf der anderen Seite des Bettes unterm Fenster, klaubte sie vom Boden auf, schlüpfte geschwind hinein und hoppelte zur Tür.
Ich riss das Brett auf und Enttäuschung legte sich über das hoffnungsvollste Lächeln, das ich besaß. Der Flur war leer. Kein Pumuckl, keine Staubflöckchen, noch nicht mal ein verdammter Sonnenstrahl.

Die Hose mit beiden Händen vor dem Bauch am Bund festhaltend, stand ich auf dem Korridor und fragte mich, ob mir der Restalkohol einen geschmacklosen Streich spiele. Ich sah auf die Uhr an meinem rechten Handgelenk: Es war acht nach sechs. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ich in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, als ich am Vortag bei meiner Anmeldung der aufgedonnerten Person den Weckauftrag gab. Zähneknirschend trat ich den Rückzug an.

Wenn ich etwas wirklich abgrundtief hasse, dann sind das schöne Frauen, die mich mitten in der Nacht aus dem Bett scheuchen, sich verkrümeln und mich halb nackt, frierend und verkatert schutzlos einem muffigen Hotelflur ausliefern.

Meine Stimmung sackte auf den seelischen Tiefpunkt. Dort blieb sie auch während des erbärmlichen Frühstücks an einem der aufdringlich dekorierten Tische im Speiseraum. Und dabei hatte ich zur Aufhellung meines Tiefs einen Fensterplatz gewählt und die kitschigen Plastikblumen auf den Nachbartisch geworfen.
Ich schüttelte mir die Weißbrotkrümel aus dem Bart, ging zum Empfang und bat Pumuckels Mama, ihr hübsches Telefon benutzen zu dürfen. Sie grinste maskenhaft und nickte bejahend, wobei sich zwar ihr Kopf, nicht aber das Gewusel auf ihm bewegte. Es kostete mich einige Anstrengung, einen kräftigen Brüller zu unterdrücken.
"Ja?", fragte eine männliche Stimme gedehnt.
Hatte wohl Angst, ihm könne jemand ins Ohr spucken.
"Gib mir Sorbete!"
"Warum?"
Das geht dich einen Dreck an. "Wolf hier. Sorbete erwartet meinen Anruf."
"Ah ja! Wo kann er dich erreichen?"
"Hostal Alameda in Zarautz. Aber nur noch heute." Na, dann muss ich eben noch etwas bleiben. Warum auch die Eile?
"Er wird sich bei dir melden."
Klack! Für einige Augenblicke hielt ich den klobigen, tutenden Hörer ans rechte Ohr gepresst, bis es schmerzte und er mir unsanft aus der Hand zurück auf die Gabel glitt.

Mama fuhr zusammen, unterbrach die Lektüre eines Groschenromans und sah besorgt zu mir auf. Ich lächelte hilflos, mietete mein Zimmer eine weitere Nacht und ging hinauf.
War es aus der Mode gekommen, ein Gesprächsende mit einem Gruß zu signalisieren?
Dabei schien doch alles in bester Ordnung zu sein. Sorbete freute sich, als ich ihm ankündigte, nach Zumaia zu kommen. Seiler sicherte mir seine uneingeschränkte Unterstützung zu. Und meine grünäugige Schönheit ... Pingpong spielende Hormone ... wird schon werden.

Am Abend unternahm ich einen weiteren Versuch, mich mit Seiler über mein weiteres Vorgehen abzustimmen. Im Dialog mit seiner Maschine leierten wir unsere Sprüche herunter. Dann ging ich auf mein Zimmer und legte mich zu meinem extrascharfen Männermagazin aufs Bett. Orientierungslos blätterte ich darin, las hier drei, dort sieben Zeilen und betrachtete eingehend die aufgeklappte Doppelseite in der Heftmitte.
Überraschend klopfte es an der Tür. Ich öffnete und blickte in ein wunderschönes, strahlendes, grünes Augenpaar.
"Das wurde für Sie abgegeben", und reichte mir einen kleinen grauen Briefumschlag, warf einen Blick an mir vorbei ins Zimmer, lächelte wissend und verabschiedete sich.
Sie lächelte! Und verabschiedet hat sie sich auch! Was war ich doch für ein Glückskind! Sehnsüchtig sah ich ihr nach und bemerkte ein plötzlich eintretendes lebhaftes Treiben in meiner Hose.
Ich schloss die Tür, setzte mich auf die Bettkante und riss den Briefumschlag auf. Er enthielt ein zusammengefaltetes Blatt in der Farbe des Umschlages mit einer Telefonnummer und Sorbetes Namenszug.
Kurz darauf verließ ich das Hotel. War die Spur bis dahin lauwarm, erhöhte sich die Temperatur nunmehr beträchtlich. Endlich, möchte ich hier einfügen.
Es regnete. Und natürlich war es kühl. In der Telefonzelle, auf der dem Hostal und dem grünen Inselchen gegenüberliegenden Seite, wenige Meter von meinem parkenden roten Wagen entfernt, wählte ich die Nummer vom Zettel. Mit dem ersten Klingelzeichen meldete sich eine Frau.
"Wolf", stellte ich mich vor.
"Fahr zurück! Sorbete wird sich wieder melden."
Das hältst du doch im Kopf nicht aus. "Was soll das? Ist etwas passiert?"

"Er und zwei andere sind aus Bayonne kommend an der Grenze festgenommen worden."
Schwachköpfe! Das französische Bayonne war ein ebenso beliebter wie bekannter ETA-Stützpunkt. Wollte diese hohle Nuss mich ruinieren?
"O, Gott! Aber weshalb?", zeigte ich mich bestürzt.
"Wir hoffen, es handelt sich um einen Irrtum und man lässt sie heute oder morgen wieder frei. Genaueres wissen wir derzeit auch nicht. Er wird sich bei dir melden. Hasta Luego!"
"Halt! Was heißt das?"
"Sieh ins Wörterbuch."
Tut, tut, tut, tut - "War mir ein Genuss, mit dir zu sprechen. Einen schönen Tag dann noch!" - tut, tut, tut, tut, tut.

Zu Tun gab es für mich in dieser Gegend nichts mehr. Kein Grund also, mich länger als notwendig einer arbeitsfeindlichen und überdies saukalten Umgebung auszusetzen. Ich blieb noch eine Nacht und verwischte am Morgen kurz nach zehn meine Spuren.
Ausgesprochen gut fühlte ich mich dabei nicht. Dass sich Seiler trotz wiederholter Aufforderung nicht meldete, nun ja, es glitt mir am Gesäß vorbei. Hauptsache er schiebt Kohle rüber - reichlich und pünktlich. Aber Pumuckl ... Allzu gern hätte ich ihr bewiesen, dass die Dornen einer wunderschön blühenden Rose meinem Stachel nichts anhaben konnten. Doch ging mein Job vor.

Wann immer sich die Gelegenheit bot, trat ich das Gaspedal bis zum Bodenblech. Also gut, ich war gefrustet. Aber nur ein ganz klein wenig.
Abgesehen von zwei Stunden, die ich in Madrid im Stau verplemperte, weil jeder Affe glaubte, ausgerechnet dann Feierabend machen zu müssen, wenn ich in Eile bin, und einem Halt vis-à-vis des Madrider Gefängnisses, wo ich in einer Imbissbude eiligst einen Hamburger verdrückte, fuhr ich ohne Unterbrechung bis Estepona.
Ich sah nur das Schwarz des Asphalts, unterbrochen von einigen Dutzend Fahrzeugen, die mich behinderten.

Es war, als führe ich durch ein Meisterwerk des Tunnelbaus - vom Atlantik bis zum Mittelmeer nicht die kleinste trivialste Ablenkung des Kraftfahrers.

Als ich am Morgen in meinem Hotelbett erwachte und ansetzte, mich über die aufsteigende Übelkeit und den stechenden Schmerz im Unterleib zu befragen, spurtete ich auch schon zur Toilette. Bewundernd nahm ich zur Kenntnis, wie viel Energie mein revoltierender Körper nach sechzehn Stunden Fahrt und vier Stunden Schlaf aufbringen konnte. Doch die Bewunderung hielt nicht lange vor. Mehr als eine Stunde klebte ich am Porzellan, bevor ich mich ganz vorsichtig löste und wie ein tatteriger Greis zum Telefon tastete. Ich schilderte Ulli mein Nasszellenproblem und bat ihn, Tomas zu schicken. Schweiß bedeckte meinen Körper. Minütlich fühlte ich mich schwächer und miserabler.

Es war die Hölle - bestimmt aber der direkte Weg dahin. Hatten sie mich also doch erwischt. Ich sah den schwarzen Mann. Hämisch grinsend lauerte er vor der Tür. Lümmelte an der Zarge und sah mitleidlos zu mir herüber. Berief er mich ab? Diese Ungeduld aber auch. Lass es mich aussitzen, nur dieses eine Mal noch, bat ich ihn in Gedanken. Wer oder was auch immer darüber entschied, es gestand mir eine weitere Stunde zu. Und als diese ausgestanden war, rappelte ich mich auf und öffnete die Tür.

Ullis Ansatz einer lockeren Begrüßung geriet ins Stocken. Ich sah wohl ungewöhnlich deformiert aus. Seine Gesichtszüge spiegelten Entsetzen. Auch gut, so verkniff er sich wenigstens einen unpassenden Spruch. Andernfalls wäre es wirklich fies gewesen und ich hätte mir sehr genau überlegt, von ihm noch einmal ein Stückchen Kuchen anzunehmen. Denn auch ohne überflüssige erheiternde Momente fühlte ich mich erbärmlich genug. Hinter seinem breiten Rücken, ein beruhigendes Doktorlächeln auf den Lippen, peilte Tomas hervor. Hatten sie geklopft? Ich musste es überhört haben.
Tomas fasste mich bei der Schulter und schob mich mit sanftem Druck zum Bett.
"Lebensmittelvergiftung", diagnostizierte er etwas später in einer wohltuend unverschlüsselten Sprache und schüttelte verwundert den Kopf.
"Was hast du zuletzt gegessen?"
"Ham-bur-ger."

"Fleischvergiftung. Gut. Das kriegen wir schon wieder hin. In einer Woche ist alles überstanden." Sprach es und verschwand, um allerlei Wundermittel aus der Apotheke zu besorgen.

Drei lange, grauenvolle Tage stand ich unter Kloarrest. Kaum eine Stunde verging, ohne dass es mich nicht drängte, das kleine weiße Ding zu umarmen. Dann erst war ich so weit genesen, dass ich mein Hotelzimmer verlassen und in der Pasteleria nach dem Rechten sehen konnte. Es lag weder von Seiler noch von Sorbete eine Nachricht vor.
Und nach fünf weiteren Tagen war es nur noch eine Episode mit - für mich - zweifelhaftem Unterhaltungswert.

Tagelang tingelte ich zwischen meinem Büro und der Pasteleria hin und her. Beinahe zwei Wochen waren seit meinem letzten Anruf vergangen, als ich am Mittwoch die Konditorei betrat und mit meinem Erscheinen das Telefon aufschrillte. Ullis flippige Verkäuferin hob ab, lauschte und reichte mir aufgeregt den Hörer.
"Deutschland! Für dich!"
Kundschaft wartete auf sie.
"Na, wenn das keine Überraschung ist!"
Ich wusste nicht, wer sich am anderen Ende überraschte. Aber kommt ein Anruf nicht immer irgendwie überraschend?
"Wir konnten uns nicht früher melden." Bernhards monotone Stimme brach ab.
Ich nutzte die entstandene Pause und schilderte ihm mit wenigen Worten, was sich im Baskenland ereignete. Oder genauer: was sich nicht ereignete.
"Es tut mir leid, mehr war einfach nicht drin."
"Du musst dich nicht entschuldigen. So was kann immer mal wieder passieren. Ich werde prüfen lassen, was an der Grenze vorgefallen ist. Seiler wird dich in den nächsten Tagen anrufen und alles Weitere mit dir besprechen. Kopf hoch! Bleib am Ball!"

Bei Bernhards sportlichem Abschiedsgruß wurde mir gewahr, wie weit sich meine Augen im Abseits befanden. Unwillig nahm ich sie vom Hintern des süßen neunzehnjährigen Mädchens, das sich eben über die Kühltheke beugte, um eine Kundin auf frischen Käsekuchen hinzuweisen.

Der hauchdünne Stoff ihrer schwarz-weiß-gestreiften Hose spannte sich. Hindurch blinzelte ein verspielter weißer Tanga. Gehört sich so was? Aber selbstverständlich! Wahnsinnig würde ich werden, wenn dem nicht so wäre. Sie sah zu mir herüber und lächelte, als bedanke sie sich für meine Aufmerksamkeit. Beherrscht wandte ich mich ab und ging die drei Schritte durch die Pendeltür in die Backstube.
Ulli faltete Blätterteig für Schweinsohren und ich erzählte der Situation angepasste, Muskulatur entspannende Witze.

Mein Nachtdienst begann wie jeder Nachtdienst: furchtbar einsam und ruhig.
Zwanzig Minuten vor Mitternacht rief Seiler an. Ich nahm den bimmelnden Apparat, setzte mich auf den angenehm erfrischend kühlen Boden und berichtete auch ihm von meinem Kurzurlaub. Zwar habe er am Nachmittag mit Bernhard gesprochen, jedoch nicht darüber. Als ich geendet hatte, ließ er mich wissen, dass er umgehend in Erfahrung bringen wolle, was mit Sorbete an der Grenze vorgefallen sei. In Zarautz habe er sich aufgrund organisatorischer Probleme nicht melden können.
"Ich werde dich dann nächste Woche wieder anrufen."

Samstagabend gab mir Biggi in ihrer mürrisch ungeduldigen Art - wir mochten uns eben - einen Streifen abgerissenen Zeitungsrand, auf dem sie in krakeligen Schriftzeichen eine Nachricht an mich notiert hatte. Ich dechiffrierte und erfuhr, dass Sorbete einen ausgedehnten Urlaub in Bayonne verbringe. Das Wetter habe sich merklich gebessert und er freue sich auf ein Wiedersehen im sonnigen Süden. Mehr wollte und mehr brauchte ich nicht. Spitzbübisch grinsend schnippte ich die Notiz in den Abfall und erinnerte Biggi an ihren wohlverdienten Feierabend. Sie warf den Kopf herum, zerknitterte ihr hübsches Gesicht und bediente sich des Blickes, dessen sie sich immer bediente, wenn sie mir mal wieder eine heiße Affäre mit einem Blitz wünschte. Schließlich stieß sie die Lade der Registrierkasse zu, schnappte nach ihrer Handtasche, drückte sich an mir vorbei und strebte dem Ausgang entgegen. Kaum hatte sie einen Fuß vor die Tür gesetzt, war ich auch schon hinter ihr.

Ich verschloss die Konditorei, nahm mir ein Stück Kirschkuchen - oder auch zwei - aus der Theke und griff zum Telefon.
Seiler schickte mal wieder sein zweisprachiges Fräulein vor. Mein Stimmungshoch ebbte ab. Zu gern hätte ich ihm Sorbetes erfreuliche Botschaft persönlich überbracht. So aber bat ich um seinen Anruf für Sonntag zweiundzwanzig Uhr.
Nicht gleich am Sonntag, aber am Montag rief er zurück. Seiler war von Sorbetes Nachricht derart aus dem Häuschen, dass er sich am Morgen des folgenden Tages gleich noch einmal meldete.
"Wir werden uns in Österreich, in Salzburg treffen. Vermutlich nach dem achten Juli. Genaueres erfährst du noch. Dein Ticket wird bei der IBERIA in Malaga hinterlegt. Der Flug geht über Zürich. Ticket und Hotel sind bereits bezahlt. Hast du mir bis hierher folgen können?"
"Nein. Was spricht gegen Afghanistan?"
"Wir haben uns für Salzburg entschieden, um nicht Gefahr zu laufen, dass du mit deiner jüngsten Vergangenheit konfrontiert wirst."
Seilers Sinn für Humor schien mir nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.
"Das ist aber nett."
Ich fand es gar nicht nett. Nicht, weil ich es nicht nett finden wollte, sondern, weil ich es nicht verstand. Vermutlich spielte er auf meine letzten Jahre in Deutschland an. Das allerdings verstand ich noch weniger.
"Morgen oder übermorgen werde ich dir das genaue Datum durchgeben. Wie kann ich dich erreichen?"
Gute Frage.
"Vielleicht per Anruf? Rufen Sie mich unter meiner Geschäftsnummer an."

Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, ging ich, nachdem Ulli um drei zur Arbeit kam und wir Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht hatten, nicht ins Hotel und fuhr stattdessen ins zehn Kilometer entfernte IPANEMA - einer herausragenden Diskothek, nur einen Steinwurf vom High Society Jachthafen Puerto Banus.
Nach dem fünften Whiskey tat ich das, was mir, seit ich laufen lernte, am wenigsten gelang: Hüftwackelnd mischte ich mich unters Volk und strampelte mir einen ab.

Stück für Stück öffnete sich das Dach über der Tanzfläche. Die Glaskuppel schob sich zur Seite und gab den Blick auf einen sternenklaren Nachthimmel frei. Eine gut abgefüllte, tobende Menschenmasse applaudierte und U2 säuselte "I still haven’t found what I’m looking for" aus mannshohen Boxen am Rande der Tanzfläche.
Ich tobte mit, wusste nicht warum, versank im Rhythmus und war spitz wie selten zuvor. Einer - ich glaube, norwegischen - Touristin erging es ähnlich. Zügellos lebten wir unsere Triebe in einer Schuhschachtel aus. Nur Freaks wissen, welche Unbilden ein Mini Cooper bereithält, wenn zwei Unersättliche gierig und hemmungslos übereinander herfallen. Dabei wäre mein kleines rotes Auto um einige Nuancen bequemer gewesen. Aber der parkte drei Autolängen weiter. Das Animalische in uns gewährte nur Aufschub bis zu ihrem recycelten Karton.
Es war furchtbar! Furchtbar heiß, furchtbar wild, furchtbar nass, furchtbar anstrengend - furchtbar schön.

Später versuchte ich mich, ihres Namens zu erinnern. Krampfhaft dachte ich nach. Ich saß in meinem Büro, trank Kaffee und grübelte. Es war Mittag, die heißesten Stunden des Tages, und ich erinnerte mich nicht. Es gelang mir ebenso wenig, wie ein Bild von ihr aufzubauen. Ich weiß noch, sie roch, nein, sie stank nach Alkohol und hatte einen eminent geilen Hintern, glaube ich. Ja, und darüber muss ich ihren Namen und alles andere vergessen haben. Etwas, das ich mit meinem Freund, dem guten Seiler, gemeinsam hatte. Auch bei ihm klafften Lücken im Erinnerungsvermögen.
Auf seinen Anruf wartete ich vergebens. Den ganzen heißen Tag lang. Und auch den Nächsten, den ich wiederum im - na, wo schon - MANICOMIO verbrachte, mich in Geduld übte und nach einem Zeichen von Ulli Ausschau hielt.

Unheimlich spannend, nicht wahr? Verdrießen Sie nicht! Sehen Sie, mein Job war es, Anweisungen meines Auftraggebers zu befolgen. Kamen sie: gut! Kamen sie nicht: nun ja.
Manchmal hatte ich aber auch richtiges Glück. Manchmal erhielt ich Besuch von einem Schutzengel, der mich vor Lethargie, Sonnenbrand und anderen Naturkatastrophen bewahrte.

So ein Schutzengel kam zufällig an diesem Nachmittag in Gestalt eines sehr blonden, sehr gut aussehenden, sehr leichten deutschen Mädchens daher. Sie war ein wenig - ja, sagen wir mal - anders, als die schönen Mädchen, die Sie bisher kennenlernten. Ihr Einzugsgebiet beschränkte sich auf Puerto Banus. Und dennoch, oder gerade deshalb, verdiente sie ein kleines Vermögen.

Ulla lächelte einnehmend, platzierte ein volles Glas Kaffee neben mein Leeres, setzte sich und kam ohne Umschweife zum Kern ihres erlösenden Erscheinens. Sie habe Angst vor ihrem Verflossenem. Ich wusste natürlich, dass das Quatsch war. Ulla hatte nicht einen Verflossenen - sie hatte Dutzende. Hm, oder auch mehr.
Sie war barfüßig und trug eines ihrer hübschen Sommerkleidchen: sehr weiß, sehr dünn, sehr klein. Eines dieser jenen Nichts, die Eskimos schweißtreibende Tagträume bescheren. Es bedeckte ihren makellosen, drahtigen, bronzefarbenen Körper gerade so weit, als dass es ihr eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vom Leib hielt.
Ich fragte mich, welche Schwachköpfe sich über Augenweiden wie diese ärgern mögen und kam zu dem Schluss, dass es sich natürlich nur um Neidhammel handeln konnte.
Wie auch immer.
Angeblich halte er sich in Marbella auf und habe ihr ausrichten lassen, dass er sie während der kommenden Nacht aufmischen wolle. Offensichtlich ein unangenehmer Patient. Welcher gesunde Mensch teilt seinem Opfer schon Datum und Uhrzeit mit? Ich lachte und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Ulla, die ihre Beine übereinanderschlug, bog sich etwas nach links, hob den blanken Schenkel und kratze sich mit der Rechten - ziemlich weit oben. Ein bisschen wie ein Köter, der knabbernd Flöhe durchs Fell scheucht. Fragend legte sie ihre braunen Augen auf mich. Glaubte sie, mich mit ihrer blöden Schaberei kaufen zu können? Was hielt diese Frau so unverschämt knusprig?
Ich wohnte ihrer graziösen Häutung mit den Augen der Wissenschaft bei. Häuten sich Hunde? Eine gewisse Erotik war dem nicht abzusprechen. Sie wusste das natürlich und dehnte, wie ich meinte, es etwas aus, bevor sie ihr weißes Höschen zurechtzupfte und mich fragte, ob ich auf sie und ihre Tochter aufpassen würde. Dabei studierte das ausgekochte Luder verlegen die Nägel der Kratzhand.

Ich zögerte, nippte am Kaffee und faselte von einer unheimlich wichtigen Verabredung, die ich unmöglich absagen könne. Ulla erhöhte von dreihundert auf fünfhundert Mark und ich litt plötzlich an Amnesie.

Ich mochte Ulla. Ich mochte sie wirklich sehr. Vor knapp zwei Monaten, Ulla hatte irgendetwas Dringendes in Deutschland zu erledigen, übernahm ich die Aufsicht ihrer dreizehnjährigen Tochter. Fünfzehn Tage bewachte und bemutterte ich die Göre, das Haus und ein zotteliges Knäuel, das mich fortwährend anfauchte.
Täglich chauffierte ich den Teenager in eine Privatschule und holte sie nach Schulschluss wieder ab. Zwischenzeitlich hielt ich das Haus und den Garten in Ordnung, kaufte ein, fütterte den fauchenden Flohfeudel und bereitete die Mahlzeiten. Es war nicht mein üblicher Job, doch hatte er seinen Reiz, machte sogar Spaß und brachte ordentlich was ein. Vier Monate, rechnete ich aus, könnte ich sorgenfrei damit auskommen.

Ulli hatte keine Einwände gegen mein nächtliches Wegbleiben. So brach ich 23 Uhr auf, fuhr bis Kilometer 150 und bog links nach Arroyo Vaquero, einer neuen Siedlung aus vielleicht fünfunddreißig Häuschen, ab.
Elf Stunden später saß ich wieder in meinem Büro und ließ mich von einem deutschen Touristen überreden, ihn zum Flughafen nach Malaga zu fahren.
Die Nacht bei Ulla war warm wie ihr Frühstückskaffee und aufregend wie die Bedienungsanleitung zu ihrem Propangasofen. Ich konzentrierte mich auf meinen Job, Ulla auf ihre Joints und die Tochter aufs Fernsehprogramm. Alles in allem eine gewöhnliche Nacht am Meer - ohne ein Zeichen des angekündigten, bösartigen Schlächters.

Seiler bereitete mir eine Überraschung. Er rief mich spät in der Nacht auf meinem Posten in der Pasteleria an.
"Ich habe unser Treffen perfekt gemacht. Du wirst am achten Juli, das ist ein Mittwoch, zwölf Uhr von Malaga über Madrid und Zürich nach Salzburg fliegen. Tickets und Hotel sind gebucht und bezahlt. Deine Tickets bekommst du in Malaga, am Schalter der IBERIA. In Salzburg, wo du achtzehn Uhr dreißig landen wirst, nimmst du dir ein Taxi und fährst zum Hotel Winklhofer.

Das Zimmer ist bis zehnten Juli auf deinen Namen reserviert. Ich werde dich um zwanzig Uhr im Foyer erwarten. Alles klar?"
"Mit Seeblick?"
"Da gibt es keinen See."
"Schade. Dann nehme ich ohne Seeblick?"
"Ohne Seeblick. Guten Flug!"
Wo kein See ist, da gibt es auch keine Mücken. Jedenfalls nicht so viele. Demnach werde ich meinen Ausflug wohl genießen müssen.

Ulli brachte mich rechtzeitig zum Flughafen. Seilers fest umrissenen Weisungen folgend, suchte ich die Hallen nach dem IBERIA-Schalter ab. Ich fand ihn, legte meinen Reisepass vor, sackte die 2.000 Mark teuren Flugtickets ein und erfuhr nebenher, dass es in Madrid Komplikationen mit dem Radar gebe. Mein Flug IB 352 würde aller Wahrscheinlichkeit nach in Verzug geraten.
Radarprobleme - so nennt man das also. Wie beruhigend. Das uns da mal kein Geisterflieger beehrt.
Trotz einer nicht unbeträchtlichen Verspätung von zweieinhalb Stunden, erreichte ich meine Umsteigemaschinen in Madrid und Zürich.

Ende der Leseprobe

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Der Roman Fechter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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